Ist Dubslav von Stechlin wirklich Fontane's Selbst-Portrait?

Der alte Dubslav von Stechlin wird gerne als Selbstportrait Fontane’s betrachtet. Liegt ja auch nahe: beides ältere Manner, Sympathieträger, und beides ausgesprochen “fontanesche Figuren”. Was denn sonst?

Aber stimmt das denn eigentlich? Vergleichen wir die Situationen der beiden, stellt sich heraus, dass sie, bis auf Geschlecht und Lebensalter, sich in so ziemlich allem unterscheiden. Zunächst die äusseren Umstände: Fontane lebte in der Stadt, Dubslav auf dem Land. Fontane war bis an sein Lebensende von Frauen umgeben (zumindest Ehefrau und Tochter), Dubslav ist “schon an die dreissig Jahre” Witwer. Dubslav’s Erscheinung ist das was man damals “salopp” nannte, Fontane war, nach dem Urteil von Zeitgenossen, durchaus nicht uneitel. Dubslav ist eher hemdsärmelig-burschikos, Fontane tat sich auf seinen Geschmack und seine urbane Gewandheit allerhand zu Gute.

Auch die innere Situation, die Einstellungen und Vorstellungswelten unterscheiden sich. Fontane war politisch, bei aller Preussen-Verehrung, ausgesprochen progressiv: der ganze “Stechlin” (das Buch, nicht die Person) ist ja eine Abrechnung mit der überkommenen, verknöcherten Gesellschaftsordnung. Dubslav dagegen ist ausgesprochen konservativ: er stellt die gegenwärtige Ordnung nicht in Frage, selbst da, wo er ihre Schwächen erkennt. Rückwärtsgewandt, orientiert er sich an allerhand autoritären Figuren (Friedrich dem Grossen, Zar Nikolaus). Sozial ist sein letztes Anliegen, dass “die Globsower nicht zu sehr obenauf kommen”. Fontane dagegen war ein enthusiastischer Unterstützer Gerhart Hauptmann’s und begeistert von seinem sozial-kritischen Drama “Vor Sonnenaufgang”.

Wenn man die beiden so nebeneinander stellt, erscheint Dubslav gar nicht mehr so sehr als Fontane’s Selbstbild gezeichnet.

Aber es gibt noch einen anderes Argument gegen die Identifizierung des literarischen Dubslav mit dem wirklichen Fontane: Dubslav trägt offensichtlich, und nachweislich, die Züge eines anderen wirklichen Menschen, nämlich die von Fontane’s Vater im fortgeschrittenen Alter. In Kapitel 16 von Fontane’s “Meine Kinderjahre” beschreibt er einen Besuch bei seinem Vater, kurz vor dessen Tode. Die ganze Beschreibung dieses Besuches wirkt wie eine Vorstudie zu dem Besuch Woldemar’s bei seinem Vater auf Schloss Stechlin, sogar die Szenenführung (Ankunft, Begrüssung, Mahlzeit, Spaziergang, Abschied) ist bis in Einzelheiten parallel. Aber auch die persönlichen Umstände des Vaters gleichen denen Dubslav’s: beide leben auf dem Land, in bescheidenen Verhältnissen. Seit der Vater sich Jahre zuvor von der Mutter getrennt hatte, lebte er allein, nur mit einer alten Bedienten als Gesellschaft. Seine nachlässige Kleidung ähnelt Dubslav’s Erscheinung, und vor allem, beide pflegen einen ähnlichen burschikos-naiven Umgangston.

Wenn man das Kapitel in den “Kinderjahren” betrachtet, und mit der Beschreibung des Dubslav im “Stechlin” vergleicht, kommt man um die Erkenntnis nicht umhin, dass Fontane hier noch einmal seinem Vater ein spätes Denkmal errichtet hat.

Diese Einsicht wirft einige Fragen auf. Eine, zum Beispiel, ist die, ob Fontane wusste was er tat. Schuf er den alten Stechlin mit Absicht, um seinem Vater ein spätes Denkmal zu setzen? Oder tat er dies unbewusst, vielleicht sogar im Glauben, ein Selbstbild zu zeichnen, dass ihm dann unter der Hand in ein Portrait des verehrten Vaters umschlug? Schwer zu sagen. Ich tendiere zu dem Glauben, das Fontane sehr genau wusste was er tat. Der ganze Stechlin ist so voller ganz bewusser Anspielungen und Chiffren, dass es ganz unwahrscheinlich ist, dass hier irgendetwas unabsichtlich gestaltet worden ist.

Eine andere Frage ist die, ob es unter den Figuren des Stechlin dann jemand anderes gibt, der sozusagen Fontane’s Part spielt. Zwei Figuren bieten sich an, schon auf Grund ihres Lebensalters: der Pfarrer Lorenzen und der Graf Barby. Von beiden sind die Barbyschen Lebensverhältnisse denen Fontane’s am ähnlichsten (städtisch, urban, und natürlich die Töchter — vor allem, da Melusine mit Sicherheit Züge von Fontane’s Tochter Mete trägt, oder vielmehr eine idealisierte Lebens-Alternative der Tochter darstellt).

Warum ist diese Frage wichtig, oder zumindest von Interesse? Mir scheint, aus zwei Gründen:

  • Man neigt dazu, auch und gerade heute, Fontane zu unterschätzen. Man sieht ihn gerne als liebenswürdig-harmlosen Plauderer und Erzähler recht trivialer Geschichten — aber das war er eben nicht! Liebenswürdig mag er gewesen sein (auch wenn mir, wenn ich mir die zum Teil recht harschen Urteile in “Von 20 bis 30” ansehe, durchaus Zweifel kommen), aber harmlos war er nicht. Und der etwas trottelig-freundliche Alte von Stechlin, mit seinen Schrullen und Anekdoten, ist von der Subtilität, Komplexität, und Modernität Fontane’s weit entfernt.

  • Der andere Aspekt, der hier im Wesentlichen offen gelassen werden soll, ist der folgende: Können wir etwas über Fontane lernen, wenn wir den Grafen Barby (und den Pastor Lorenzen) betrachten? Beide sind fortschrittlich-liberal: übernehmen sie in den Gesprächen manchmal Fontane’s Part? An einer Stelle ist das mit Sicherheit so: bei dem Gespräch über Heldentum im 38. Kapitel, bei dem Lorenzen ein ganz modernes, moralisches und vor allem selbst-verantwortliches Heldentum propagiert, “im Dienst einer Eigenidee, eines allereigensten Entschlusses”, und es Dubslav’s traditioneller Idee eines physisch-militärischen Heldentums entgegenstellt. Auch Lorenzen’s grosse Analyse der preussischen Gegenwart im 29. Kapitel gibt mit Sicherheit Fontane’s Denken wieder. Was sonst lässt sich aus den Aussagen der beiden liberalen Alten erkennen?