Kästner's verlassene Kinder
Erich Kästners Mutterkomplex ist bekannt, hinreichend dokumentiert, und sowieso nicht zu übersehen. Daher ist es interessant, dass es in seinen Kinder- und Jugendbüchern noch zumindest ein anderes durchgehendes Thema gibt, das aber nicht in der gleichen Weise erkannt zu werden scheint: in allen von Kästners Kinderbüchern treten Kinder auf, die von ihren Eltern verlassen worden sind.
Ein paar Beispiele gefällig?
Emil und die Detektive: Emil ist Halbwaise, und mit seinem Botendienst auf sich allein gestellt.
Pünktchen und Anton: Anton ist wieder Halbwaise. Pünktchen ist aber ebenfalls von ihren Eltern verlassen, und ohne Interesse dem Fräulein Andacht überlassen worden.
Das Fliegende Klassenzimmer: Das Buch spielt in einem Internat, also sind eigentlich alle Kinder, zumindest zeitweise, von ihren Eltern verlassen. Aber einer von ihnen, der Schüler Johnny Trotz, wurde von seinen Eltern wie ein Übersee-Paket abgeliefert, und nie mehr abgeholt, und also ganz explizit und dauerrhaft verlassen.
Sogar in den späten, ihrem ganzen Duktus nach sehr anderen (und sehr viel heitereren) Geschichten vom Kleinen Mann treten verlassene Kinder auf. Mäxchen’s Eltern verschwinden, und Mielchen soll gleich zweimal verlassen werden: erst, tatsächlich, von ihrem unbekannten Vater, aber dann auch noch von ihrer Mutter, die “verschwinden” will, nachdem sie Mielchen in die Obhut des Mäxchen-Haushalts gegeben hat — auch wenn dieser Versuch vereitelt wird.
In zwei Büchern stellt das Verlassen-Werden sogar den hauptsächlichen Handlungs-Strang dar. Beide Bücher sind ausgesprochen seltsam, ihre Handlung fast absurd, was aber selten gesehen zu werden scheint.
In Emil und die drei Zwillinge will ein reisender Athlet einen seiner Söhne (eigentlich: Pflege-Söhne) bei seiner Abreise im Hotel zurücklassen, wie einen vergessenen Schuh — und die “Detektive” wollen diesen Plan auf eine seltsam komplizierte und merkwürdige Weise vereiteln. Bei aller “Neuen Sachlichkeit” des Stils ist das Buch eine ganz seltsam absurde Geschichte. Wo, in welchem Land, und zu welcher Zeit, soll sich diese Geschichte abgespielt haben können? Und warum ist der Plan, den die Detektive machen, so seltsam und abwegig?
In Das doppelte Lottchen trennt sich ein Eltern-Paar und trennt ihre Zwillings-Töchter ebenfalls: je ein Kind wird von einem Eltern-Teil verlassen. Hier ist weniger die Handlung absurd (sie ist sogar, als künstlerische Komposition, recht reizvoll) als vielmehr die Entstehungszeit: Das Buch wurde 1949 veröffentlicht — als ob die Kinder in der direkten Nachkriegszeit keine andere Sorgen gehabt hätten, als Scheidungsgeschichten.
Offensichtlich: das Thema brannte Kästner auf den Nägeln — ob bewusst oder unbewusst ist unklar. Aber jedenfalls konnte er sich Kinder, die nicht von ihren Eltern verlassen waren, wohl nicht recht vorstellen.